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Mit dem Rennrad durch die Dolomiten – auf und abseits asphaltierter Straßen. Über ein spontanes Gravel-Abenteuer auf den Spuren einer alten Bahntrasse.

Doch, man darf wohl davon ausgehen, dass die Damen und Herren von der UNESCO sich so ihre Gedanken gemacht haben, als sie dieses Fleckchen Erde auf ihre berühmte Liste des Weltnaturerbes setzten. Die Dolomiten sind, darüber lässt sich wirklich nicht streiten, einfach wunderschön. Besonders aus dem Sattel eines Rennrads betrachtet, ist die Pracht dieser Berge und Täler immer wieder ein eindrucksvoller Genuss: etwa beim Fahren über einige der spektakulärsten Straßen, die dieser Planet zu bieten hat, im Rausch der Geschwindigkeit umgeben von grandioser Landschaft. Zum Beispiel die Traumrunde um das beeindruckende Cristallo-Massiv. Hier befinden sich einige amtliche Gravel-Abschnitte. Selbst wenn das vorher vielleicht gar nicht so geplant war. Aber immer schön der Reihe nach.

©JORIS LUGTIGHEID

Wenn der Vater mit dem Sohne
Und das beginnt mit einem Gespräch mit Enrico, dem Chef des Hotels. Kaum sind mein Sohnemann und ich nach der langen Anreise im Radsport-Hotel in Toblach eingetroffen, frage ich ihn schon um Rat: „Hast du einen Tipp für eine schöne Runde zum Einrollen für einen viel zu schlecht trainierten Niederländer und seinen viel zu fitten Sohn?“ Der begeisterte Radsportler muss nicht lange überlegen, ehe er uns diese beiden Worte sagt: „Cristallo-Runde!“ Dann führt er etwas genauer aus: „Einmal rum ums Massiv. Macht etwa 70 Kilometer und 1400 Höhenmeter.

Und falls euch das doch nicht reichen sollte, fahrt ihr einfach noch hoch zum Rifugio Auronzo. Da dürft ihr dann noch mal steile 570 Höhenmeter draufrechnen.“ Ganz offensichtlich haben der Hotelchef aus Südtirol und der Journalist aus den Niederlanden ziemlich unterschiedliche Auffassungen von dem Begriff „Einrollen“, aber sei es drum. „Komm Papa, wir machen einfach ganz ruhig. Und wenn du nicht mehr kannst, warte ich oben auf dich. Versprochen“, versucht mein Filius Sebastiaan mich zu motivieren. Mit seinen 20 Jahren und 60 Kilogramm können ihn die Berge kaum schrecken. Mir hingegen reicht am folgenden Morgen schon die perfekt asphaltierte und nur leicht ansteigende Straße durch das Höhlensteintal, um mir zu zeigen, dass ich meine Zwanziger genauso wie die 60 Kilo lange hinter mir gelassen habe, denn meine Reifen scheinen förmlich am Asphalt zu kleben …

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Drei Zinnen im Morgenlicht
Doch nach einigen Kilometern erinnern sich meine müden Beine endlich wieder daran, wie das mit dem Rennradfahren funktioniert. So kann ich den Blick auf die fast schon unwirklich im Morgenlicht leuchtenden Gipfel der berühmten Drei Zinnen in vollen Zügen genießen. Auch Sebastiaan blickt fasziniert in die Ferne, dann registriert er meinen Formanstieg.

„Siehst du, es geht doch“, grinst er. Nur um mir am kurz darauf folgenden Anstieg fröhlich pfeifend davonzufahren. Dafür kann ich mit der Weisheit und Erfahrung des Alters kontern, als wir am auf 1750 Metern gelegenen Lago di Misurina vorbeijagen. „Auf diesem See fanden die Eislaufwettkämpfe der Olympischen Winterspiele 1956 statt“, unterrichte ich meinen Sohn, nur um mir als frechen Konter die Frage: „Ach? Und erinnerst du dich noch an die Siegerehrung?“ einzufangen. Zur Strafe blase ich die von Enrico erwähnte Sondereinlage hinauf zum Rifugio kurzerhand ab. Auch wenn ich die aus dem Giro d’Italia bekannte Strecke gerne mit den eigenen Beinen bezwungen hätte. Zuletzt hatte ein gewisser Vincenzo Nibali hier im Jahr 2013 einen heroischen Solo-Ritt erst mit dem Etappenerfolg und schließlich mit dem Gesamtsieg der Italien-Rundfahrt gekrönt. Doch wir folgen seinen Spuren diesmal nicht. „Die dichten Wolken sind zu gefährlich, das wird schweren Regen geben“, schiebe ich das Wetter als offizielle Begründung vor.

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Immer dem Trend nach
So rollen wir stattdessen hinab zu Kaffee und Kuchen in dem mondänen, aber auch etwas altmodisch wirkenden Wintersportort Cortina d’Ampezzo. Als wir auf einer sonnigen Terrasse Cappuccino und Torta di Mirtilli (zu Deutsch: Blaubeerkuchen), genießen, fällt unser beider Blick auf eine alte Eisenbahnbrücke. „Das sind doch Radfahrer, die da langrollen“, bemerkt Sebastiaan – und schon steht der Entschluss fest: Da wollen wir auch lang! Und so sausen wir bald auf den Spuren einer stillgelegten Schmalspurbahnstrecke gen Norden.

Als ich uns gerade dafür lobe, wie clever wir die recht betriebsame Straße SS 51 gemieden haben, ist der unerwartete Moment da! Ohne Vorwarnung endet die Asphaltdecke des Radweges – und geht in feinen Schotter über. „Dann wohl doch zurück und über die Straße“, seufzt der Sohnemann, doch ich entscheide anders. „Wieso? Graveln liegt doch voll im Trend. Über diesen feinen Schotter können wir auch mit unseren schmalen 23-mm-Reifen rollen.“

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Auf der Gravel-Bahn
Eine geniale Entscheidung, wie wir schnell feststellen. Parallel, aber deutlich oberhalb der SS 51 rollen wir weiter. Unter den Reifen unserer Bikes knirschen die kleinen Steinchen. Teils wurde die Bahntrasse regelrecht in den Berghang gehauen. Wir passieren einen alten Bahnhof. Zweisprachig sind die Fahrtziele und Entfernungen an der Fassade eingemeißelt. Fast könnte man meinen, dass in wenigen Minuten unter Dampf der nächste Zug einfährt. „Da kannst du dann ja einsteigen, wenn du nicht mehr kannst“, ruft mir mein Mitfahrer mit einem Lachen zu.

Dann wird es kurz Nacht! Plötzlich rauschen wir durch einen alten Eisenbahntunnel. Schnell die Sonnenbrille hochgeschoben, und bald gewöhnen sich die Augen an das von der Decke scheinende Kunstlicht. „Das ist sensationell. Auf der Straße hätten wir das alles niemals erlebt“, gesteht Sebastiaan in einem dieser goldenen Momente jugendlicher Einsicht. Und wer bin ich, ihm da zu widersprechen? Zumal kurz nach dem Tunnel schon der nächste Höhepunkt wartet – und zwar im Wortsinn. Hoch über einer sehr engen und sehr tiefen Schlucht rollen wir über eine zugegebenermaßen etwas verwittert wirkende Stahlbrücke. Gedanklich ziehe ich meinen Helm vor den Ingenieuren und dem Kunstwerk, das sie hier mit dieser Bahntrasse vor über einhundert Jahren geschaffen haben. Ein Kunstwerk, das wir jetzt mit unseren Rennrädern befahren dürfen. Angewandte Kunst quasi.

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Blutige Idylle
Gebaut wurde die Strecke zwischen 1915 und 1917 von den Österreichern. Und, wie sollte es anders sein, natürlich als Versorgungsweg Richtung Kriegsfront. Denn hier, nicht unweit der heutigen deutsch-italienischen Sprachgrenze, tobten im Ersten Weltkrieg überaus blutige Kämpfe. Als wir den Passo di Cimabanche erklimmen, blicken wir hinüber auf den flachen Gipfel des Monte Piana. Allein dort ließen damals über 15 000 Soldaten ihr Leben. Zwei Jahre lang standen sich die Feinde hier oben auf einer Höhe von mehr als 2000 Metern gegenüber. Heute erzählt ein Freilichtmuseum die grausame Geschichte nach. „Unvorstellbar, wenn man diesen idyllischen Ort jetzt und hier betrachtet“, sagt Sebastiaan. Genau hier endet auch unser spontanes Gravel-Abenteuer.

Nach dem Wechsel vom Schotter auf die Straße rauschen wir zurück Richtung Toblach. Doch Sebastiaan scheint auf den Geschmack gekommen zu sein: „Lass uns doch die Schotterstraße durch den Wald nehmen“, bettelt er. Gesagt, getan. So rollen wir bergab, vorbei an Befestigungen und alten Maschinengewehrstellungen, bald auch an gewaltigen Betonbunkern. Plötzlich weisen die Geschützöffnungen nicht mehr nach Süden, sondern nach Norden. Und wir wissen: Nun sind wir im Zweiten Weltkrieg angekommen. Doch genug blutige Geschichte für heute. Wir genießen lieber die finalen Kilometer entlang des Toblacher Sees und schließlich das wohlverdiente Finisher-Bier im Hotel. Ich hebe mein Glas auf eine sensationelle Tour voller Überraschungen. Bleibt nur noch die Frage, wieso uns Hotelwirt Enrico eigentlich nichts von den tollen Gravel-Pfaden erzählt hat. „Aber du hast doch nach einer gemütlichen Einrollrunde gefragt“, entgegnet der mit einem Lächeln. Na dann: „Prost!“

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WISSENSWERTES
Toblach
bildet das Tor zu den Dolomiten – ein perfekter Ausgangspunkt, um die Landschaft des UNESCO-Weltnaturerbes zu erkunden. Die Anreise per Auto ab Frankfurt/Main dauert etwa rund sieben Stunden.

GRAVEL BIKEN IN DEN ALPEN
Autor und Sohn wohnten im Hotel Union (hotelunion.it). Als Mitglied des Hotelverbands Roadbike Holidays (roadbike-holidays.com) bieten Hotelwirt Enrico Comini und seine Familie alles an, was Radfahrer brauchen. So stehen etwa geführte Touren rund ums Cristallo-Massiv an der Tagesordnung. Natürlich gibt’s auch Vorschläge für Touren auf eigene Faust.

Seitdem sich das Gravel Biken wachsender Beliebtheit erfreut, sind mehr Hotels auf den Zug aufgesprungen und bieten Rundum-Sorglos Pakete rund um das Thema Gravel.

Wir haben aus den verschiedensten Regionen einige Hotels für Dich aufgelistet.
Viel Spaß beim Stöbern!

ÖSTERREICH

ITALIEN

RADVERLEIH
Wer nicht das eigene Rad mitbringen möchte, wird wenige Meter vom Hotel Union entfernt bei FunActive Tours (www.funactive.info) fündig. Hier gibt es hochwertige Räder von Bianchi und Pinarello im Verleih.

WEITERE REGIONEN UND HOTELS UNTER
roadbike-holidays.com
#myRoadbikeMoment